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1968 im Sport“ – eine illustrierte Zeitreise und mehr

30.11.2018 16:15

Für dieses Buch wurde es höchste Zeit. Das Jahr 1968 hat uns bereits allerlei Erinnerungs-diskurse beschert, immer mal wieder war der Sport darin eingebunden, manchmal stand er sogar im Zentrum. Doch eine Publikation über „1968 im Sport“ hat lange auf sich warten lassen.

1968 im Sport Cover | Bildquelle: Arete Verlag
1968 im Sport Cover | Bildquelle: Arete Verlag

Jetzt hat der junge, aber rührige Hildesheimer Verlag „arete“ einen illustrierten Erzählband vorgelegt, der im hinteren Klappentext ganz nüchtern als eine „Zeitreise“ angekündigt wird. Bei etwas ge-nauerer Durchsicht verfestigt sich jedoch der Eindruck, dass hier die Ereignisse im Sport von damals mit Entwicklungen 50 Jahre danach perspektivisch in einen größeren Zusammenhang gestellt werden.

Der Band geht zunächst streng kalendarisch vor. Die erste Story ist vom 11. Februar 1968 datiert und spielt in Grenoble (Frankreich), wo vom 6. bis 18. Februar gerade die Olympischen Winter-spiele stattfinden. Unter der Überschrift „Olympia ruft die Jugend der Hansestadt“ wird darüber berichtet und mit einem Foto dokumentiert, dass und wie eine vielköpfige Delegation der Ham-burger Sportjugend die bundesdeutsche Olympia-Mannschaft vor Ort unterstützt. Der Text selbst fragt dann aber nach, warum sich aus der Sportbewegung vermeintlich so wenig rebellischer „68er Geist“ entwickelt hat. Diese Frage wird jedoch viel später im hinteren Teil des Buches mit sieben Essays selbst wieder in Frage gestellt und mit Gegenentwürfen gehaltvoll beantwortet.

„1968 im Sport“ – da war doch was: Allein die Überschriften wie „Frauen im Sport: Was haben wir den 68ern zu verdanken?“ (Essay von Margret Beck) und „Was ‚68‘ in Bewegung kam. Ein sport-politischer Rückblick“ (von Hans-Jürgen Schulke) und „Die 68er-Jahre und der Sport“ (von Franz-Josef Kemper) sowie „Was ‚1968‘ mit dem Sport gemacht hat“ (von Sven Güldenpfennig) lassen tiefschürfende Rückblicke von zwei Zeitzeuginnen (neben Margret Beck ist dies noch Bri-gitte Berendonk) und von vier Zeitzeugen (neben den bereist genannten ist dies noch Arnd Krü-ger) erkennen. Alle vier waren 1968 mittendrin und bieten mit ihren Beiträgen in mancherlei Hinsicht ein äußerst tragfähiges Fundament dafür, auf dem sich auch losgelöst von alten Bildern neue Diskurssäulen errichten lassen – oder wie schreibt doch Sven Güldenpfennig ganz am Ende seines (diesmal nur achtseitigen!) Aufsatzes: „Es sollte deutlich geworden sein, dass ein solches Weiterarbeiten die Mühe wert ist zur Verständigung über eine der ergiebigen Quellen, aus denen sich das heuti-ge sportbezogene Denken und Handeln auf dem Platz, neben dem Platz und in der Sportpolitik speisen“.

Zurück in das Jahr 1968: Die Sportstätten im Kalendarium des herausgebenden Sporthistorikers Christian Becker stehen u.a. in Hockenheim („Tod einer Rennfahrer-Legende“), in Berlin („Turn-fest in einer geteilten Stadt“), in Köln („Jupp Elze – der erste deutsche Doping-Tote?“), in Ost-Berlin („Bezirksspartakiade: Die Kinder-Olympiade beginnt“), bevor es schließlich in acht Beiträ-gen um die Olympischen Spiele in Mexico-City im Oktober 1968 geht, wo zwei Fäuste für Black Power genauso hochgestreckt werden, wie uns Ingrid Becker, Bob Beamon und Dick Fosbury Körperperfektion bei ihren atemberaubenden Sprüngen durch die Höhenluft gezeigt haben. Das Jahr 1968 klingt dann u.a. aus in Hamburg bei der „Notstandsolympiade“ der Sportstudierenden, die für eine Verbesserung der Studiensituation auf die Straße gehen. Allein diese Zeitreise durch das Jahr 1968 ist schon originell aufbereitet, zumal seltene Fotos zu sehen sind und vom Autor (der dabei auch ein Interview der DOSB-PRESSE mit Ingrid Mickler-Becker zitiert) anekdotische Details eingestreut werden, die noch nicht allen hierzulande bekannt sein dürften – mehr noch: Das Buch geht in eine „Nachspielzeit“ mit sieben Geschichten, die sich in den Jahren 1972 bis 2006 ereignet haben: „Der Kaiser und der Rebell“ als Fußball-Europa-meister am 18. Juni 1972 in Brüssel sowie „Das Ende der heiteren Spiele“ am 6. September 1972 in München.

Und dann sind da noch ein paar ganz andere Geschichten, die ohne 1968 vermutlich anders verlaufen wären oder die es so gar nicht gegeben hätte – bis schließlich am 19. März 2006 beim Bundesligaspiel Hertha BSC Berlin gegen Arminia Bielefeld im Olympiastadion ein Konferfei von Rudi Dutschke mit der Aufforderung „Es lebe der Widerstand“ auf einer Hertha-Fahne auftaucht. Dabei ging es um Protest gegen Entscheidungen des damaligen Hertha-Managers Dieter Hoe-neß, und der Chronist Christian Becker (selbst Hertha-Fan und vielleicht sogar der Fahnenträ-ger?) ist sich sicher: „Eine derartige Inanspruchnahme Dutschkes in deutschen Fußballkurven ist ansonsten nicht bekannt“.

Ein vorläufiges Fazit: „1968 im Sport“ versucht laut Vorwort, „eine wichtige Lücke in der Erinne-rungsliteratur zu 1968 zu schließen und zugleich zum Nachdenken und Diskutieren über den gegenwärtigen Sport anzuregen“. Inwiefern dieser Versuch gelingt, hängt allerdings von Intensi-tät der Rezeption von „1968 im Sport“ ab. Es kommt also zu aller erst auf den Leseversuch selbst an. Eine Steilvorlage ist das Werk jedoch allemal, um sich 50 Jahre danach Gedanken auf der Basis von 1968 über die weitere Entwicklung der verschiedenen (politischen) Felder des Sports zu machen.

Angesichts dieser weitreichenden Rezeptionschance des Bandes sieht man gern über winzige formale Defekte hinweg, wenn z.B. ein Fußballspieler namens Netzer mal „Günter“ und mal „Günther“ heißt, und der DLV wird einen Deutschen „Leichtathletikverband“ ebenso verkraften wie der Allgemeine Deutsche Hochschulsportverband (adh) sich vielleicht sogar darüber freut, dass er als „ADH“ (von 1968) noch mal ganz groß rauskommt.                    Prof. Detlef Kuhlmann

Christian Becker: 1968 im Sport. Eine historische Bilderreise. Hildesheim 2018: arete. 124 Seiten; 18 Euro.